Bei minus 20 Grad Celsius lagert der Schweizer Künstler Franticek Klossner eine Vielzahl gefrorener Selbstporträts. Die skurrile Sammlung wirkt wie ein klinisches Experiment. Auf Metallregalen sind die eisigen Portraits frontal aufgereiht. Jeder Kopf ist durch den Gefrierprozess anders ausgeformt: Aufgeborsten, zerrissen, gespalten oder als realistischer Abguss, widerspiegeln sie die gesamte Bandbreite von Deformation und Formveränderung. Umgeben von Frantiček Klossner's «Stillen Reserven» und konfrontiert mit der Vielzahl „tiefgefrorener Ichs“ denken wir unwillkürlich an Richard David Prechts Bestseller „Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?“. Die verwundbare Körperlichkeit der eingelagerten «Ichs», wird zum Sinnbild menschlicher Konditionen. In der Kälte des Kühlraums, intensivieren sich die Prozesse unserer Wahrnehmung: Mit jedem Atemzug dringt die Kälte in uns ein ... Wir atmen das Werk ein und hinterlassen beim Ausatmen, durch die Erwärmung unserer Atemluft, einen stetig wachsenden Raureif auf den gefrorenen Köpfen. Wie ein feiner Pelz legt sich der Atem des Publikums auf das Werk des Künstlers.
At minus 20 degrees Celsius, Swiss artist Franticek Klossner stores a large number of frozen self-portraits. The bizarre collection looks like a clinical experiment. On metal shelves, the icy portraits are lined up frontally. Each head is shaped differently by the freezing process: Burst open, torn, split, or a realistic cast, they reflect the full range of deformation and shape-shifting. Surrounded by Frantiček Klossner's "Hidden Assets" and confronted with the multitude of "frozen selves," we involuntarily think of Richard David Precht's bestseller "Who am I - and if so, how many?" The vulnerable physicality of the stored "I's", becomes a symbol of human conditions. In the cold of the deep-freezing room, the processes of our perception intensify: with every breath, the cold penetrates us ... We breathe in the work and when we exhale, due to the warming of our breath, we leave a constantly growing hoarfrost on our frozen heads. Like a fine fur, the audience's breath settles on the artist's work. Walk-in deep freezer with frozen self portraits.
Stille Reserven, Begehbarer Kühlraum mit gefrorenen Selbstportraits, Franticek Klossner, Sammlung Reinking Hamburg, Kunsthalle Osnabrück, 2011
Dr. Ralf Beil zur Installation «Hidden Assets», Kunstmuseum Bern, 2000: Nebst der surrealen Atmosphäre eignet Franticek Klossners begehbarer Tiefkühlzelle mit Metallregalen voller gefrorener Selbstportraits auch eine makabre Note. Da wo sonst ganz profan Lebensmittel gekühlt werden, bleiben nun Menschenhäupter frisch, hart und eisig. Auf den ersten Blick scheint es, als seinen hier die führenden Köpfe des Kältekults der Moderne – Nietzsche, Jünger, Benn um nur einige zu nennen – ironisch eingelagert in Erwartung besserer Zeiten und tieferer Aussentemperaturen. Doch es sind Selbstportraits des Künstlers, die da aufgereiht sind, die eine Hälfte aus einer Gussform von 1990, die andere vom Jahr 2000. Hidden Assets stellt mit seinem riesigen Vorrat nicht nur den Höhepunkt einer zehnjährigen Beschäftigung Klossners mit dem gefrorenen und schmelzenden Selbstbildnis dar. Die Arbeit steigert neben der Schönheit des Vergänglichen vor allem die Hybris des Überdauerns. Die mit Rauhreif belegten Abgüsse wirken wie ein Heer von Totenmasken. Komplex pendeln Klossners Köpfe zwischen Todesstarre und multiplem Leben. In ihrem massiv seriellen Charakter evoziert die Installation auch Experimente mit geklonten Identitäten und stellt sie in jener realen Eiseskälte aus, in denen dieses Leben unterhalb des Eispunktes für spätere Generationen oder weitere Versuche aufbewahrt wird.
Dr. Marc Fehlmann zur Installation «Hidden Assets», Kunstmuseum Bern, 2000: «Hidden Assets» ist die Aktivierung einer stets präsenten Idee in Klossners Schaffen. Mit der Realisierung dieser Installation gibt der Künstler Einblick in einen über zehn Jahre gewachsenen Prozess. Hidden Assets repräsentiert Reserven von Klossners Gedankengut in eingefrorenem Zustand und damit in seiner konsequentesten Form. Dabei hat alles mit einem Zufall begonnen, als Klossner im Winter 1983 Scherenschnitte in Einmachgläser abgefüllt hatte und diese im ungeheizten Atelier eingefroren sind. Daraus entwickelte er die ersten skulpturalen Arbeiten aus gefrorenem Wasser, die als Hybride zwischen Performance und Installation still vor sich hinschmolzen. In der Folge ermöglichte ihm ein Atelier-Stipendium einen Aufenthalt in New York, wo er in der Performanceszene Diamanda Galás begegnete, die sein Pendel zwischen Morbidem und Lebensfreude heftig ausschlagen liess, während die Papierstapel und Bonboninstallationen von Felix Gonzalez-Torres (1957-1996) sein Bewusstsein für die Vergänglichkeit schärften. Die Konfrontation mit New York und den amerikanischen Superlativen weckte in Klossner auch den Mut zu figürlichen Arbeiten, denn Künstler wie Jeff Koons beeindruckten ihn mit ihrer Mischung aus Kitsch, Ironie und Sex. Und so begann er als Reaktion auf die New Yorker Eindrücke mit der intensiven Selbstbefragung und wählte als Thema seinen eigenen Kopf, denn dieser ist für ihn als „Pars pro toto“ die zentrale menschliche Form. Erste Abgüsse aus gefrorenem Wasser von Klossners eigenem Kopf entstanden 1990, also etwa gleichzeitig wie „Self“ von Marc Quinn und ein Jahr nach Bruce Naumanns erster Basler Präsentation der Kopfobjekte aus Wachs. In der Folge tauchten Klossners schmelzende Selbstportraits in zahlreichen Ausstellungen und Performances immer wieder in neuen Variationen auf und prägten seinen Ruf. Hidden Assets ist Klossners erste Arbeit, in der seine gefrorenen Köpfe nicht schmelzen. Ihre Lagerung und serielle Aufreihung stellt einerseits die Verfügbarkeit von Ideen dar, andererseits scheint sie eine klassische Strategie der amerikanischen Nachkriegskunst zu verfolgen. Sie ist aber auf Klossners Eindrücke in den Katakomben von Rom und insbesondere auf die «macchine anatomiche» in der Capella Sansevero in Neapel zurückzuführen. Die Verbindung mit dem Portrait peilt jenen Symbolcharakter an, der mit der indirekten Anwesenheit von Vergangenem – den Abgüssen von gelebtem Leben – und dessen Andenken spielt. Die Archivierung der Köpfe als Hort von Ideen, eben Klossners „Assets“, demonstriert die Konzentration vor der Auflösung, während die aus dem festgefrorenen Zustand leicht in den flüssigen überführbaren Köpfe als Zeit- und Vergänglichkeitsmetaphern auf ein Memento Mori hinweisen. So erreicht Klossner mit den seriell angeordneten Eisköpfen im Licht des Raumes eine suggestive Atmosphäre und eine geheimnisvolle, sakrale Präsenz an der magischen Grenze zwischen Vergessen und Erinnern.
Der menschliche Körper in der Gegenwartskunst: Das Buch zur Ausstellung «BODIES - Kunstkörperlich - Körperkünstlich», kuratiert von André Lindhorst, Christel Schulte, Rik Reinking, Kunsthalle Osnabrück in Kooperation mit der Sammlung Reinking Hamburg, mit Textbeiträgen von Birgit Dieker, Martin Kramer, André Lindhorst, Dirk Manzke, Carolin Oetzel, Christel Schulte, Rik Reinking, Mechthild Zawadynski und umfangreichem Bildmaterial der ausgestellten Werke von Hermine Anthoine, Vanessa Beecroft, John von Bergen, John Bock, Baldur Burwitz, Heinrich Brummack, Wim Delvoye, Birgit Dieker, Brad Downey, Johannes Esper, Günther Förg, Gregor Gaida, Till F. E. Haupt, Damien Hirst, Franticek Klossner, Sherrie Levine, Grayson Perry, Marc Quinn, Deborah Sengl, Daniel Spoerri, Yukiko Terada, Nicola Torke, Andy Warhol, Pae White, Erwin Wurm, Herbert Zangs.
Katalog zur Ausstellung «EISZEIT - Gegenwartskunst aus Berner Sammlungen», Kunstmuseum Bern, 2000, mit Texten von Dr. Ralf Beil und Dr. Marc Fehlmann und Werken von Ian Anüll, Herbert Brandl, Hans Danuser, Fischli/Weiss, Joseph Grigely, Thomas Hirschhorn, Franticek Klossner, Christian Marclay, Inigo Manglano-Ovalle, Roman Signer, Luc Tuymans